Verlag Henselowsky Boschmann  · Vorbilderbuch · Kleine Galerie des Menschlichkeit
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Vorbilderbuch
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Vorbilderbildbuch
Kleine Galerie der Menschlichkeit
240 Seiten · gebunden · mit Lesebändchen · 9,90 €
Umschlag: Ilse Straeter
ISBN 978-3-942094-95-5

Wir sind aus dem Ruhrgebiet, wir sind altmodisch, wir haben Vorbilder. Sie bedeuten uns sehr viel. Denn wer keine Vorbilder mehr nötig zu haben glaubt, der hat sich aufgegeben und ist auf dem Weg in die Barbarei. So ist dieses Buch der Vorbilder auch eine kleine Galerie der Menschlichkeit.
Über Vorbilder schreiben in diesem Buch:
Michael Zabka · Joachim Wittkowski · Werner Streletz · Ulrich Straeter · Ilse Straeter · Siegfried Stajkowski · Annika Schuppelius · Einhard Schmidt-Kallert · René Schiering · Thomas Rother · Zepp Oberpichler · Sarah Micke · Margret Martin · Herr Luca · Susi Lilienfeldt · Margit Kruse · Klaus D. Krause · Anke Klapsing-Reich  · Hubertus A. Janssen · Sabine Herrmann · Gerd Herholz · Markus Günther · Jens E. Gelbhaar · Ulrike Geffert · Udo Feist · Jens Dirksen · Ludger Claßen · Monika Buschey · Karin Bucconi · Peter Bothe · Werner Bergmann · Werner Boschmann · Hermann Beckfeld

Michael Zabka
Jahrgang 1963. Abitur in Gladbeck, Studium der Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Pädagogik in Essen. Nach dem Volontariat im Ruhrgebiet Redakteur und Redaktionsleiter bei Tageszeitungen in Baden-Württemberg und Niedersachsen. Seit 2014 Redakteur im Referat „Öffentlichkeitsarbeit“ des Landtags Nordrhein-Westfalen. 2018 erschien sein Roman „Da blubbern die Hormone – Groß werden im Ruhrgebiet der 70er Jahre“.
Wer brauchen ohne „zu“ gebraucht
Fritz Weber war der Vater meiner Mutter, ein großer, schmaler Mann, der „Eckstein“ aus der grünen Schachtel rauchte und dem nie ein böses Wort über die Lippen kam. Im Winter saßen wir oft zusammen in der kleinen Wohnküche, ganz nah am Kohleofen, während Oma Lydia am Herd stand und Reibekuchen backte. Opa las mir „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch vor, er rezitierte Schillers „Glocke“, Goethes „Erlkönig“ und die Gedichte Heinz Erhardts, wobei ich das Gefühl hatte, dass er an Heinz Erhardt noch mehr Spaß hatte als ich. Opa Weber liebte das Spiel mit der Sprache. ...
Joachim Wittkowski
unterrichtet am Städtischen Gymnasium Selm die Fächer Deutsch, Philosophie, Katholische Religion und Literatur; ist Fachleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Hamm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum.
Von Denkern und Lenkern
... Es ist eben dieser unbeugsame Einsatz für die Kumpels und ihre Familien, es sind Gerechtigkeitssinn und Sprachmächtigkeit, die Georg Werner, Ludwig Kessing und Heinrich Kämpchen zu „Denkern und Lenkern“ in der Geschichte der Bergbaus und darüber hinaus des Ruhrgebiets gemacht haben.
Werner Streletz
geboren 1949 in Bottrop, lebt und arbeitet in Bochum; Schriftsteller und Kulturjournalist; Mitglied im PEN-Club; veröffentlicht Lyrik, Prosa, Hörspiele, Theaterstücke; zuletzt erschienen der Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“ (2016) und die Erzählung „Die Route des Raben – Eine Begegnung mit Edgar Allan Poe“ (2018); mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Literaturpreis Ruhr für das Gesamtwerk.
Blankenburg
... Der zweite, ein hochgewachsener Jugendlicher, Martin Blankenburg mit Namen, wie ich alsbald erfuhr, konnte den Mainstream-Beats wenig abgewinnen, sondern brachte Songs ins Spiel, die aus der Soul- oder Rhythm & Blues- Ecke stammten und eher in den USA erfolgreich waren als in der Bottroper Diskothek „Piccadilly“. Zum Teil sang uns Blankenburg Strophen aus seinem uns wenig bekannten Repertoire der Raritäten vor, wir anderen hörten respektvoll zu. Ich wüsste von niemandem, der sich über diese spontanen Freilicht-Auftritte lustig gemacht hätte. ...

Ulrich Straeter
geboren am 26. Juli 1941 in Dortmund, lebt und arbeitet seit 1968 in Essen. Di­plom-Finanzwirt, Verleger, Schriftsteller. Mitglied in ver.di und im Verband deutscher Schriftsteller, Mitglied der Europäischen Autorenvereinigung DIE KOGGE, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland (Freundes- und Förderkreis). Veröffentlichungen zuletzt: „In jenem ach so heißen Sommer“, in: „Ruhrgebietchen. Was deine Kinder an dir lieben und was nicht“ (2018). „Sauerland Impressionen“, Texte Ulrich Straeter, Bilder Ilse Straeter (2018). „Die Droste im Tal“, in: Gödden, Walter/Maxwill, Arnold (Hg.): Literatur in Westfalen (2014). „Grüne Minna“, Kriminalroman (2010). Verleihung des Rheinlandtalers (2002).
Eine andere Welt ist möglich – hier: Antonio Gramsci
... Gramsci trat 1913 der Sozialistischen Partei bei, brach 1915 sein Studium ab, arbeitete dann als Journalist und widmete sich der Politik. Ein Zusammenschluss der Sozia­listischen mit der Kommunistischen Partei Italiens, den er anstrebte, gelang nicht. Er gehörte zu den Begründern und zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Italiens, deren Generalsekretär er von 1924 bis 1927 war. Von 1924 bis zu seiner Verhaftung durch die Faschisten trotz Immunität im November 1926 war er Abgeordneter des italienischen Parlaments.
Während seiner Zeit im Gefängnis verfasste er Texte mit philosophischen, soziologischen und politischen Überlegungen, die sogenannten „Gefängnishefte“. Sie bilden ein bedeutendes Werk marxistischen Denkens und sind das Vermächtnis, das uns dieser Autor und politische Akteur hinterlassen hat. ...
Siegfried Stajkowski
geboren im Ruhrgebiet, nur selten rausgekommen aus dem Ruhrgebiet, lebt immer noch im Ruhrgebiet.
Prof. Carlo Kreuzer oder: Der Lügenbaron aus Bochum
Eigentlich hieß der Professor Karl Josef Kreuzer. Doch in den Vorlesungen stellte er sich als Carlo Kreuzer vor, der in der Vergangenheit auch einmal gerne gegen den Fußball getreten hat.
Spannend waren seine Vorlesungen – die echte Lesungen waren. Die Unibude war immer rappelvoll. Einmal stand plötzlich eine junge Dame auf und fragte ganz belanglos, wer denn mal für sie einen Tampon habe. Peinliche Betroffenheit war in der gesamten Bude zu spüren. Carlo Kreuzer unterbrach seine Vorlesung und griff die Frage nach dem Tampon auf. ...
Annika Schuppelius
ist ein Kind des Ruhrgebiets, geboren und aufgewachsen im Duisburger Norden. Wohnt neben dem wahrhaftigen Orgelmann, der sie zu dieser Geschichte inspirierte.
Erdbeereis auf Lebenszeit
... Der kleine blonde Herbert saß immer so nah wie möglich an der Nachbarswand, um dem geheimnisvollen Mann zu lauschen. „Der Orgelmann“, so nannte der Zehnjährige den alten Herrn von nebenan. Denn wer der war, das wusste er nicht so genau. Immer gegen Nachmittag schmiss er seine Orgel an und gab ein neues Lied zum Besten. Es war der Höhepunkt des Tages für den kleinen Herbert.
Sein Bruder Dietrich, vier Jahre älter, fand das alles weniger spannend. Musik war eben nicht so seins. Herbert jedoch war hin und weg von den Melodien, die der Alte dudelte, denn auch er selbst machte gerne Musik, ganz zum Missfallen seines Vaters Wilhelm. Früh übte er sich an einem Miniatur-Spielzeugklavier, das er von Mutter Hella geschenkt bekommen hatte, und begann, eigene Melodien auszuprobieren. ...
Einhard Schmidt-Kallert
Jahrgang 1949. Sozialgeograph und Raumplaner; war Entwicklungshelfer in Südostasien, von 1986 bis 1988 Gastdozent in Ghana und danach mit unterschiedlichen Aufgaben in Auslandseinsätzen in Afrika, Asien und Lateinamerika; von 2005 bis 2014 war er Professor für Raumplanung in Entwicklungsländern an der TU Dortmund. Zahlreiche wissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen, unter anderem Reisereportagen.
Father Merten – der Missionar und die Fetischpriester
Die Regenzeit war rechtzeitig gekommen in diesem Jahr. Viele einsame Bauernhäuser im Busch waren kaum erreichbar. Mit Glück konnten die Bewohner sich barfuß auf schlammigen Wegen zum nächsten Markt durchschlagen.
Ich sitze an diesem tropischen Abend auf den Afram Plains mit Father Alfons Merten in seinem roten Suzuki, dem man die jahrelangen Fahrten auf Schlaglochpisten ansieht. Auch das Vierradgetriebe funktioniert nicht mehr. Mit Geschick umkurvt der Missionar die zahlreichen Schlaglöcher auf der Lateritpiste, die nach dem Regen voller Wasser stehen. Bald ist der Ortsrand von Donkorkrom, dem Haupt­ort der Afram Plains, erreicht. ...
René Schiering
(geboren am 27. August 1977) wuchs jenseits einer Künstlerszene in Gladbeck, Westfalen, auf. Seine Faszination für Film und Fernsehen führte ihn 1997 zum Studium nach Köln. Studienbegleitend sammelte er erste Erfahrungen in der Medienbranche. Nach Promotion 2006 und anschließender sprachwissenschaftlicher Arbeit heuerte er 2011 als Autor beim Fernsehen an. Seitdem schreibt er für Formate wie „Privatdetektive im Einsatz“, „Berlin Tag und Nacht“ und „Krass Schule“. 2011 debütierte er mit „Ruhrpott-Köter“ als Romanautor. Im Moment macht er mit der Formation Ramblin’ René & The Stetson Five Countrymusik.
Was würde Schlingensief jetzt tun?
In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren hat man nicht gerade nach Vorbildern Ausschau gehalten. Axl Rose trug auf der „Use Your Illusion“-Tour (1991 – 1993) gerne ein T-Shirt, auf dem Jesus am Kreuz abgebildet war. Darunter prangte der Schriftzug: „Kill Your Idols!“ Entsprechend fällt es mir schwer, auf Anhieb ein „mustergültiges Beispiel“ zu nennen, an dem ich mich in meinem Leben orientiert hätte. Aber es gibt da doch jemanden, zu dem ich immer wieder herübergeschielt habe, weil seine Biographie zufällige Parallelen mit meiner aufweist und weil mir seine Taten imponiert haben. Dieser Jemand kommt aus dem Ruhrgebiet. Dieser Jemand ist von hier aus in die große weite Welt ausgezogen. Dieser Jemand ist: Christoph M. Schlingensief (geboren am 24.10.1960; gestorben am 21.08.2010). ...
Thomas Rother
betreibt mit Christa Rother auf dem Welterbe Zollverein Essen den „Kunstschacht Zollverein“: Atelier, Museum, Wohnstätte, Tagungsraum. Im Buch „Grubengold“ Delia Bösch: „… ein archaisches, schwer romantisches Wunderkabinett und zugleich der einzige Ort im ganzen Ruhrgebiet, wo sich Kunst und Kohle auf derart atemberaubende Weise gefunden haben.“ Susanne Kippenberger im Tagespiegel Berlin: „Rother ist ein Zauberer: Er macht aus Vergangenheit Gegenwart, aus Industrie Kunst und aus Kunst Leben, aus Altem macht er Neues.“
Thomas Rother, 1937 in Frankfurt (Oder) geboren, lebt seit 1955 in Essen. Maurerlehre, Studium, WAZ-Redakteur, Schriftsteller, bildender Künstler. Vor der Stilllegung zog Rother 1985 nach Zollverein. Prof. Dr. Karl Ganser: „Sie waren schon lange vor der IBA da und haben Saatkörner gestreut, ohne die die IBA nicht gedeihen hätte können.“ Auszeichnungen für literarische und bildnerische Arbeit, zuletzt „Ehrenpreis des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg“ 2017 für das Lebenswerk.
Ein zweites Künstlerleben · Werner Graeff und das Bauhaus
... Werner Graeff, von dem viele Kunsthistoriker sagen, er sei der letzte Bauhauskünstler gewesen, war Experimentator seit dem Eintritt ins Bauhaus, er ist es bis zum Tode geblieben. Die Jugendlichkeit und seine Treue zum künstlerischen Weg zeichnen ihn als Künstler aus, aber auch als einen ungemein beredten Zeitzeugen der internationalen Kunstgeschichte. Sein schriftstellerischer Nachlass, erst 2010 erschienen, gibt erstaunliche Einblicke in die Welt der Bauhäusler, die weltweit auf die Kunst- und Geschmacksbildung bis in die Gegenwart einen außerordentlichen Einfluss ausübten – Logik und poetische Intentionen, Konstruktion und Musikalität von Farben und Formen.
Doch erst mit dem Begriff „Folkwangschule“ lässt sich das bewegte Leben dieses Künstlers erahnen, in dem Früheres im Gegenwärtigen weiterwirkte. ...
Zepp Oberpichler
Musiker, Autor, Ruhrpottkind. Mehr als 25 Ton­träger, über 200 eigene Songs und weit über 600 Konzerte. Morgens um fünf Uhr schreibt er Bücher, um sechs treibt er Sport, um halb sieben geht er eine Runde mit dem Hund und um acht sitzt er in den Räumen seiner PR-Agentur Durian in Duisburg. Seine Bücher haben immer was mit dem Ruhrgebiet und meist was mit Rock and Roll zu tun: „Chuck Berry over Bissingheim“ (2017), „Galgenvögel liegen tiefer“ (2016), „Grubenkind“ (2015 mit Jürgen Post), „Heartzland“ (2012 mit Jürgen Kassel), „Gitarrenblut“ (2009), „Die Stones sind wir selber“ (2002 mit Tom Tonk); außerdem zahlreiche Beiträge in Anthologien und für Zeitschriften. [www.oberpichler.de]
Der Windmühlenmann
... Aber streng genommen, so bei Lichte betrachtet, da bleibt für mich nur einer: Pete Townshend. Der Gitarrist von The Who, der besten Band des Planeten.
Pete Townshend trat recht früh in mein Leben. Ich war gerade zehn oder elf, da hat Onkel Willi, ja, der aus dem Schrebergarten, mir das Doppelalbum „Tommy“ vermacht. Eine Glanztat! Ich verliebte mich in das Cover mit seinen Aufklappseiten, verliebte mich in die Idee der Rockoper, verliebte mich in die Musik. Die Band selbst kannte ich allerdings schon. Meine Mutter war seinerzeit im Bertelsmann Music Club. Daher bekam sie immer irgendwelche Platten zugeschickt. Aus früherer Zeit besaß sie noch eine Single mit vier Songs: Drafi Deutscher And His Magics – „Marmor, Stein und Eisen bricht“; Caterina Valente – „Kismet“; Pierre Brice – „Wunderschön“ und ja, The Who mit „My Generation“. Cooler Mix, wie ich heute noch finde. Aber hatten die anderen Songs eine Chance gegen „My Generation“? Nie! ...

Sarah Micke
ist Germanistin und Kommunikationswissenschaftlerin. Sie lebt mit ihrer kleinen Familie in ihrer Heimatstadt Essen und arbeitet als Redakteurin in Duisburg. Gesundheitsthemen sind ihr größtes Faible.
Ein Superheld für Erwin
Da lag er tatsächlich. Fahl im Gesicht, schlafend, nur flach atmend. Ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Sofort merkte ich, wie sich alles in mir zusammenzog und ich von jetzt auf gleich bewegungsunfähig war. Es musste ein interessanter Anblick sein, wie ich inmitten der beiden Krankenbetten stand. Denn als ich den Kopf zur Seite wandte, sah mich der Patient im Nachbarbett mit leicht geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen an. „Alles in Ordnung, Schwester?“, erkundigte er sich ernsthaft besorgt. Ich nickte. Dann war ich ungewöhnlich schnell zur Tür hinaus auf dem Flur. Ich holte erst einmal tief Luft, als hätte ich das minutenlang versäumt. Mir dämmerte, dass sie ihn meinten, als ich vorhin ein Gespräch meiner Kolleginnen im Vorbeigehen aufschnappte: „Wir hatten lange keinen Prominenten mehr auf der Station.“ – „Ja, stimmt. Komisch, dass er kein Einzelzimmer mit Chefarztbehandlung bekommt.“ ...
Margret Martin
ist Bochumerin: wegen Geburt, Wohnort der Mutter, Studium; ist Essenerin: wegen Kindheit und Jugend bei den Großeltern, Studenten-WG; ist Dortmunderin: wegen Wohnort von Vater und Bruder; ist Duisburgerin: wegen erster Arbeitsstelle in Marxloh; ist Bottroperin: wegen Liebe, Familie, Lebensmittelpunkt, Arbeitsplatz. Das Wichtigste in Kürze über die „Blonde aussem Pott“: Erfüllung: Familie und Beruf; Leidenschaft: Freunde treffen und kochen; Begeisterung: Lesen und Schreiben; Lust: Wandern und Fahrrad fahren; Freude: Malen und Ehrenamt.
Eigentlich waren es drei
Mein Name ist Margret Martin. Ich war Lehrerin. Einunddreißig Jahre lang. Und ich habe meinen Beruf sehr geliebt. Wie es dazu kam? Nun, ich wurde Ostern 1958 in Essen-Haarzopf eingeschult. Die Grundschule, es handelte sich dabei um zwei ältliche, wenig imposante, den Schulhof begrenzende Gebäude, hieß damals noch Volksschule. Ich kann mich nicht erinnern, ob die erste Unterrichtsstunde meines Lebens um acht oder um neun Uhr begann, auch habe ich vergessen, ob es zuvor, wie heutzutage üblich, einen Gottesdienst gab. Aber es gab Frau Schroer, ungefähr fünfundzwanzig MitschülerInnen, meine Schiefertafel vor mir auf dem Tisch, an dem ich auf einer Bank gemeinsam mit einem anderen Mädchen ein wenig eingeklemmt saß, und es gab – so meine Erinnerung – nicht viel mehr zu tun, als Tafel, Schwamm und Wischlappen mal aus- und mal wieder einzupacken. ...
Herr Luca
ist Journalist und Pressesprecher, wurde 1964 geboren, wuchs in Wattenscheid auf und lebt nach Stationen in Brüssel, Speyer, Düsseldorf, Frankfurt und Kassel seit mehreren Jahren wieder im Ruhrgebiet, in Mülheim. 2018 erschien sein erstes Buch „80 Tage auf der Welt“, in dem er den Tod seines Sohnes Luca zum Anlass nimmt, um auf heiter-besinnliche Art über die Welt und das Leben nachzudenken.
Ruhender Pol
Als wir uns 2001 das erste Mal trafen, ahnte ich nicht, was aus uns werden würde. Wie er mich verändert. Ich konnte nicht wissen, dass ich einem Engel begegnet war.
Geärgert hatte ich mich – und zwar so richtig. Über meinen Chef. Über meine Mutter. Aggressiv war mein zweiter Vorname. Und meine Frau hatte ich auch gerade verlassen. So ein Mist, ein verdammter. Hat sich so ergeben. Quatsch. Ich hatte es so gewollt. Denn ich war am Ende – mit unserer Beziehung und überhaupt. ...
Susi Lilienfeldt
Diplom-Designerin aus Dortmund, 1967 in Hagen geboren, hat drei wunderbare Kinder. [www.lilienfeldt-design.de]
„Wir wollen lieber fliegen als kriechen.“
Louise Otto-Peters (1819 – 1895), Frauenrechtlerin.
Surviving Kindertransportees
„Es wäre eine solche Verschwendung, ein kleines Mädchen zu retten, das als Frau ihr Leben verplempert, indem sie shoppen geht und über das Mittelmeer segelt.“
Dame Stephanie Shirley
Wenn man den Namen Steve im Zusammenhang mit der IT-Branche hört, denken viele erst mal an Steve Jobs, aber es gibt auch eine weibliche Steve, die eine Pionierin für Frauen in der IT-Branche war. Stephanie Shirley gab sich einen Männernamen, um als Unternehmerin in der männerdominierten Geschäftswelt der sechziger Jahre ernst genommen zu werden. Auch heute noch wird sie von vielen Steve genannt. ...
Margit Kruse
wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis „Eisaugen“, „Zechen­brand“, „Hochzeitsglocken“ und „Rosensalz“. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben zahlreichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zwölf Bücher veröffentlicht, darunter einen Roman, der für den Literaturpreis Ruhr 2009 nominiert war. Labrador Enja ist stets dabei, wenn Margit Kruse sich auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.
Der tolle Dieter, ein Ruhrpott-Cartouche
Dieter kam mit einem Freund im Schlepptau herein. Er ignorierte uns, die wir in der Pause schon im Näh- und Handarbeitsraum saßen und uns mental auf den Unterricht vorbereiteten. In einem riesigen, hohen Klassenzimmer in einem alten Backsteingebäude in Erle, einem Ortsteil von Gelsenkirchen. Schnurstracks ging er auf den Glasschrank am Ende des Raumes zu, öffnete ihn flink mit einem Schrau­benzieher, entnahm ihm die orangefarbene „Brot-für-die-Welt“-Sammeldose, öffnete den Deckel und griff grinsend hinein. Das Geld stopfte er sich in seine Hosentasche. Er lächelte mich an, zwinkerte mit dem rechten Auge und warf mir eine Kusshand zu. Schön war er nicht, doch er hatte was, der schmale – fast schon dürre – hochaufgeschossene Dieter, der wegen zwei Ehrenrunden mit seinen knapp 16 Jahren noch immer die 9. Klasse besuchte. ...
Klaus D. Krause
kam 1953 in Lünen nahe dem Lippe­ufers zur Welt. Obwohl sein Geburtshaus wegen des sandigen Untergrunds eines alten Flussbetts abgerissen werden musste, blieb er der Lippe und Lünen während seiner Jugend treu. Erst das Journalistik-Studium verschlug ihn nach Dortmund, wo er anschließend als freier Journalist für die Presse und den WDR-Hörfunk arbeitete. 1984 kehrte er reumütig an seinen Fluss in die Lippestadt Haltern zurück und heuerte dort als Redakteur bei den Ruhr Nachrichten an. 1988 zog es ihn als Redaktionsleiter und später als Chefreporter zur Dorstener Zeitung, wo er seitdem direkt an der Lippe zu Hause ist. Nach dem Abschied aus der Redaktion denkt er für seinen Lebensabend über einen Umzug nach Wesel nach – schließlich endet dort auch der Lippelauf im Rhein. Nach seiner Wiedergeburt plant Krause dann ein Comeback in Bad Lippspringe.
Der Klümpken-Fielosof
Nein, besonders vorbildlich sah es nicht aus, das Idol meiner Kinderzeit. Meist sah ich ja nur seine obere Hälfte. Verwuschelte, widerspenstige Haare, die eine natürliche Abneigung gegen Friseursalons zu haben schienen. Fast immer ein Grinsen im rundlichen, gutmütigen Gesicht – so könnte Charlie Brown ausgesehen haben, wenn er je den Peanuts-Comics entwachsen und zu einem gestandenen Mannsbild gereift wäre. An der Kleidung meines Idols war stets die Jahreszeit zu erkennen. Im Sommer einfarbige Oberhemden mit aufgekrempelten Ärmeln. Im Winter dicke Pullover, deren Neigung zum Müffeln davon zeugte, dass die Stippvisiten in Waschmaschinen so häufig waren wie die Besuche anderer Leute in der Kirche: „Einmal zu Heiligabend – das reicht fürs ganze Jahr!“ ...
Anke Klapsing-Reich
erblickte 1961 in Dorsten das Licht der Welt. Ihr Abitur baute sie am Gymnasium St. Ursula, bevor es sie zum Studium (Geschichte, Germanistik, Politik) ins schöne Trier an die Mosel zog. Nach ihrem Magisterabschluss kehrte sie in den „Pott“ zurück und volontierte bei den Ruhr Nachrichten in Dortmund. Viele Jahre arbeitete sie als Redakteurin in der Wochenend-Beilage „Das bunte Journal“. Heute lebt die Mutter eines inzwischen erwachsenen Sohnes mit ihrer Familie wieder in Dors­ten und arbeitet als Lokalredakteurin bei der Dorstener Zeitung/Ruhr Nachrichten. Als Autorin lokalhistorischer wie auch unterhaltsamer Themen sind bislang schon mehrere Veröffentlichungen von ihr erschienen.
Die „Pippi“ vom Grünen Weg
Als der liebe Gott am 23. März 1961 seine Himmelswerkstatt aufschloss, um sein schöpferisches Tageswerk zu verrichten, muss er etwas abgelenkt gewesen sein: Vielleicht war es der Frühlingsanfang, der ihn so feminin stimmte. Oder der Ärger darüber, dass ihm zwei Tage zuvor seine männliche Schöpfung, die später auf den Namen Lothar Matthäus getauft wurde, so gründlich missraten war. Jedenfalls wich der Allmächtige an diesem Donnerstag kurzfristig von seinem ursprünglich vorgesehenen Produktionsplan ab: Einem spontanen Impuls folgend, zog er anstelle des georderten Ys in letzter Sekunde ein zweites X-Chromosom aus seinem Baukasten und lieferte leicht verspätet, kurz nach 21 Uhr, die Bestellung von Heinrich und Ingeburg Klapsing im St.-Elisabeth-Krankenhaus zu Dorsten aus.
Hubertus A. Janssen
Jahrgang 1964, aufgewachsen in Warendorf an der Ems, wurde nicht Förster, sondern beendete sein Medizinstudium in Mainz. Seit 2010 dichtet er für die Funke-Mediengruppe und für den Landwirtschaftsverlag Münster und für andere Zeitungen. Als Erfinder des „landwirtschaftlichen Feuilletons“ ist er ein Vertreter eher kurzer Kurztexte. Sein Gedichtband „Der Lurch hält durch“ wurde von Peter Menne illustriert. „Kohle, Kappes, Koniferen“ heißt das vierte Programm, mit dem er gemeinsam mit Jens Dirksen auf Tour geht. 2018 erschien das gleichnamige Hörbuch mit einer Live-Lesung, aufgenommen in der Buchhandlung Platzer, Essen-Steele. Der Grenzgänger Janssen arbeitet als Arzt genau da, wo Ruhrgebiet und Münsterland ineinander übergehen. Er lebt mit Familie in Recklinghausen.
Ruhrpotthelden
Schwer hebt Herbert ab vom Sofa,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Wirft sich auf sein Zündapp-Mofa,
das ihn in die Ferne zieht.

Braust in seinen Schrebergarten,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Sein Gemüse muss nicht warten,
Fachmann Herbert gießt und zieht.

Mit dem Hängerchen nach Hause,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Budenstopp für Tütenbrause,
hört es gern, wenn Brause zieht.

Leicht liegt Herbert auf dem Sofa,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Und es schweigt sein altes Mofa,
das er stolz im Hofe sieht.
Sabine Herrmann
Überzeugte Ruhri-Lokalpatriotin. Wollte nie weg. Abi gebaut, an der Ruhr-Uni Germanistik und Geschichte gemacht, die Arbeitsplätze als Journalistin vor der Haustür. Dem Hobby des Schreibens frönt sie immer noch. Und das mit der heiteren Gelassenheit kann uns allen nicht schaden. Ahoi!
Kleine Onkelogie: Bänker mit Hirn und Herz
„Keep calm und carry on.“ Mein Onkelchen scheint das fleischgewordene Subjekt dieses englischen Credos zu sein. Immer cool, immer ruhig und obendrein ein ganz feines, leises, weises Lächeln um die Lippen herum. Ein Ausbund an heiterer Gelassen- und großer Ausgeglichenheit. Und sein Namensvetter Uwe befindet ihn als einen der charaktervollsten Menschen, die er kennt. So einen hat frau doch gern als Vorbild – oder? ...
Gerd Herholz
geboren 1952 in Duisburg. Schrieb und schreibt für den Rundfunk, Zeitungen, Blogs (z. B. die Revierpassagen). Als Autor und Herausgeber erschienen von ihm u. a. „auf- und abgesänge. gedichte“ (Sassafras) und der Longseller „Die Musenkussmischmaschine. 132 Schreibspiele für Schulen und Schreibwerkstätten“ (mit Bettina Mosler; Neue Deutsche Schule). Zuletzt erschienen von ihm Prosatexte und Gedichte im Verlag Henselowsky Boschmann und in der Literaturzeitschrift „offenes feld“ (Herford). Mehr bei Wikipedia unter „Gerd Herholz“.
Vorbildstörung
Endlich sahen wir nach den Eltern auch den Jungen, Ludger, den missratenen Prinzen, den an wen auch immer verlorenen Sohn. Das war er also, „der Ludger“: grimassierend, mit ungelenken Bewegungen, den Oberkörper nach vorne stoßend, ohne Blickkontakt, die nach oben gerichteten Augen unentwegt flackernd, fast wie bei einem Blinden. Die Haare hatte man ihm zu einem Pony in die Stirn gekämmt, Pullover und Hose etwas zu eng, zu kurz. Der Junge wachse eben so schnell. Wie einen kleinen Idioten ließ man Ludger aussehen, gerade so, als käme es bei ihm auf nichts mehr an. Doch irgendetwas in seinen kurzen Seitenblicken, seiner Körperhaltung mit dem aufmerksam schräg geneigten Kopf, ganz Ohr, signalisierte, dass da drinnen in Ludger einer wohnte, der minutiös alles wahrnahm und speicherte, hellwach. ...
Markus Günther
geboren 1965 in Bottrop, hat Sachbücher, Essays und Prosa veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Weiß“ im Verlag Dörlemann in Zürich. Markus Günther lebt in Bad Godesberg.
Es zählt nicht, was wir sagen, sondern wer wir sind.
Über Clemens Kraienhorst
Ein Kommunist als Vorbild? – Im Ernst? Man könnte die Frage noch weiter zuspitzen: ein Kommunist als Vorbild für einen konservativen Katholiken? Wie um alles in der Welt passt das zusammen? Die kürzeste Antwort lautet: Es kommt eben drauf an, um welchen Kommunisten es geht – und natürlich auch, um welchen Katholiken.
Der Kommunist, Clemens Kraienhorst, und der Katholik, also ich, teilen zunächst einmal Herkunft und Heimat. Bottrop verbindet uns viel mehr, als die 60 Jahre Altersunterschied uns trennen. Zeitgenossenschaft, immerhin, haben wir noch gehabt: Als junger Mann konnte ich Kraienhorst noch erleben und ihn, wenn auch nur recht flüchtig, kennenlernen.
Jens E. Gelbhaar
Jahrgang 1965, Schifferkind, aufgewachsen in Voerde-Friedrichsfeld, hat als Jugendlicher zu schreiben begonnen, schreibt Kurzprosa, Lyrik, Drama, ist zudem Fotograf. Seit den neunziger Jahren verschiedene Aktivitäten in der freien Theaterszene des Ruhrgebiets. Neben einigen Semestern des Studiums (Germanistik, Theaterwissenschaft) an der Ruhr-Universität Bochum eine Vielzahl unterschiedlicher Berufstätigkeiten; heute Alltagsbetreuer von Senioren in Einrichtungen in Recklinghausen und Essen. Der Autor lebt in Duisburg-Walsum und in Voerde.
Herr Jandrosch
Als 1945 amerikanische und britische Truppen während der „Operation Plunder“ den Rhein überquerten, um ins Ruhrgebiet vorzustoßen, durchquerten sie Dörfer wie Spellen und Löhnen und besetzten auch das Rathaus der Landgemeinde Voerde. Über dessen Portal erkannten sie stuckgeformte Szenen aus dem vorausgegangenen Weltkrieg: siegesgewiss sich verabschiedende deutsche Soldaten, um sie bangende Frauen und Kinder, stolze Söhne, die von ihren alten Vätern verabschiedet wurden, all das linker Hand; rechts davon siegreiche Heimkehrer, ihren Liebsten in die Arme fallend, jubelnd Hüte in die Lüfte werfend.
Viele Jahre, nachdem beide großen Kriege ganz anders ausgegangen waren, als dort oben über der Tür prophezeit, war das Rathaus seiner ursprünglichen Aufgabe entledigt. Man hatte ein Wohnheim für Leute mit gleichfalls verschobener Identität daraus gemacht, für Alte, die man nun Senioren nannte. Herr Jandrosch hatte sich hier unterbringen lassen, im Gegensatz zu manch anderen, die an diesem Ort ihre letzten Jahre zubrachten, freiwillig.
Herr Jandrosch war ein sehr großer, fröhlicher Mann mit strahlend blauen, hellwachen Augen, 86 Jahre alt und kerngesund, sah man davon ab, dass das Diabetesleiden ihm beide Füße geraubt hatte; knapp unterhalb der Knie endeten seine Beine. ...
Ulrike Geffert
Jahrgang 1956, ist gebürtige Bottroperin. Sie studierte in Bochum und Münster Psychologie und Sozialmanagement. Unter dem Pseudonym U. Li veröffentlichte sie Ruhrgebietskrimis und Kurzgeschichten in Anthologien von Henselowsky Boschmann und des Autorenvereins ARIAL-10 e. V. Für die Zeitschrift „Tango Danza“ verfasste sie Artikel über Tango-Events im Ruhrgebiet. Bei Henselowsky Boschmann ist ihre Kurzgeschichte „Marika Kilius, meine Mutter und der Herzog von Arenberg“ erschienen. Sie lebt mit ihrem Kater Pablonski in Bottrop.
Adenauer! Oder vielleicht doch eher Che Guevara?
Ich habe mir eine ganze Vorbildersammlung zugelegt. Eine Vorbildergalerie sozusagen. Jedes Exponat für sich anbetungswürdig, ein Unikat – alle gemeinsam: die Tankstelle meiner Seele. Darunter auch ein besonders skurriles Exemplar: Held, Zauberer und Kraftquelle zugleich.
Wir haben uns in Essen-Dellwig kennengelernt, weit hoch den Reuenberg rauf, dann rechts, da, wo die Felder anfangen und die Armut aufhört. Wie er über den Platz schritt: gelassen, raumgreifend.
Fremdes Terrain, jede Menge gaffendes Publikum, und er: die Ruhe selbst. Die buchstäbliche Verkörperung von Autonomie, Mut, Widerstandskraft und unbeirrbarem Glauben an sich selbst. Ja, ich gebe es zu: Er imponierte mir vom ersten Moment an, und ich wusste: Mit dem will ich ins Heu! ...
Udo Feist
Journalist, Dortmund – kam an, kurz bevor Kennedy ging (John F.).
„Die leben ja wie die Urchristen!“ – Wenn man sie lässt …
Es ist bereits dunkel, als am Abend des 22. August 2014, einem Freitag, in Dortmund linksautonome Schüler, Auszubildende, Studenten und Handwerker die Albertus-Mag­nus-Kirche besetzen. Sie wollen hier ein Sozial- und Kulturzentrum einrichten, das „Avanti“-Zentrum. Das lange leerstehende Gotteshaus in der Nordstadt wurde bereits entweiht. Die Anlage ist marode, der Hof verwildert, die Fassade in die Häuserflucht der Wohnstraße integriert. Pfarrer Ansgar Schocke von der Gemeinde, der die Kirche gehört, ist hier der Hausherr. Mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs hätte die Polizei Handhabe, die Kirche rasch zu räumen. Doch Schocke zeigt die Besetzer nicht an. Udo Feist hat im Januar 2019 mit ihm gesprochen. ...
Jens Dirksen
gebürtiger und praktizierender Niederrheiner (Hanns Dieter Hüsch: „Weiß nix, kann aber alles erklären.“), tätig in den Grenzen des Ruhrgebiets von 1920. Einst Mitarbeiter der Schiller-Nationalausgabe, heute Kulturchef der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ).
Nachsatz zum Vorbild
Wer ein echtes Rundum-Vorbild für alle Wechselfälle des Lebens sucht, wird in der wirklichen Welt kaum fündig. Das liegt daran, dass Vorbilder vor allem Teil-Bilder sind. Sie entstehen durch selektive Wahrnehmung, durch gezielte Ausblendung all dessen, was nicht passt zu einem Vorbild, was nachteilhaft für seine Funktion wäre. Vorbilder sind keine Bilder von der Wirklichkeit, sondern welche vom Ideal. Keine Fotografien, sondern Reinzeichnungen. Der vorbildliche Mensch, der sich ja selbst meist nicht wehren kann dagegen, Vorbild zu sein, wird zur moralisch korrigierten Abstraktion dessen, was wir Realität nennen. Aber es ist abstrahiert von etwas Konkretem, das einen Namen hat, das macht seine Anziehungskraft aus. Das Vorbild ist die Möhre, der unser moralischer Esel hinterhertrabt. Es ist ein Wert zum Anfassen, mit zwei Wurzeln: die Wirklichkeit und deren Bereinigung vom Unwesentlichen. Ein Ideal wird darin sicht- und greifbar, konkret und – scheinbar – unmittelbar. Das Vorbild ist eine Art Heiligenbildchen der Humanität, mehr Wunsch- als Abbild. Ein Vorbild muss nicht unbedingt real sein, viel wichtiger ist der Schein, in dem es erstrahlt. Und vielleicht wird das Vorbild sogar zur Fiktion, je mehr es sich um eine Abstraktion von der Realität handelt. Zu einer nützlichen, einer notwendigen Fiktion, die aber eben auch notwendigerweise eine Fiktion ist. Oder? ...
Ludger Claßen
war 1985 bis 2016 Verleger des Klartext-Verlags. Er ist Honorarprofessor an der Universität Duisburg-Essen und beschäftigt sich mit der Geschichte und der Literaturgeschichte des Ruhrgebiets.
Tammaria
Ich bin in einem ehemaligen Bergmannskotten aufgewachsen. Im Haus lebte schon immer Tammaria. Sie gehörte zum Haus und lebte in gewisser Weise in der Welt, wie sie beim Bau des Hauses bestanden hatte. Das Haus war alt, klein, hatte eine sehr steile Treppe in die erste Etage und einen Gewölbekeller mit einem Kohlenbunker, Kartoffelkisten, Obstvorräten, riesigen Mengen an Einmachgläsern und einem großen Sauerkrautfass.
Tammaria war meine Großtante Maria, die ältere Schwester meiner Großmutter. Alle nannten sie nur Tammaria. Tammaria war ledig und hatte ihr gesamtes Leben in dem Haus verbracht – abgesehen von zwei Reisen zum französischen Marienwallfahrtsort Lourdes. Von den Lourdes-Reisen hatte sie einen Vorrat Weihwasser mitgebracht, mit dem sie sich in besonders bedrohlichen Situationen – etwa bei einem starken Gewitter – bekreuzigte. ...
Monika Buschey
lebt und arbeitet in Bochum.
Spiel ist alles. Auf der Spur von Else Lasker-Schüler
Ich weiß gar nicht mehr, wo ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Ich glaube, im Berliner Künstlergetümmel kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Nicht, dass ich damals schon gelebt hätte. Aber es sind um die Zeit Gedichte entstanden, die gewaltig beunruhigen können, noch Jahrzehnte später. Vielleicht spürte ich der Schockwirkung von Gottfried Benn nach, der die Erfahrungen, die er als Arzt am Seziertisch und in der Krebsbaracke machte, zu Gedichten verarbeitet hat.
Eine Frau kommentierte seine poetischen Geständnisse: „Jeder seiner Verse ein Leopardenbiss“, schreibt Else Lasker-Schüler, „ein Wildtier-Sprung.“
Gut möglich, dass das die ersten Sätze waren, die ich von ihr gelesen habe. Ihre Anerkennung für einen Kollegen weckte meine Anerkennung für sie. Einmal auf die Spur gesetzt, konnte ich gar nicht mehr von ihr lassen. Allein die Hyazinthenträume und der Goldstaub im Haar! Bei ihr weit mehr als Dekor, das ganze Drum und Dran, die samtenen Westen und die Pumphosen, die Ringe und die Armbänder. ...
Karin Bucconi
literaturverliebter Mensch, leidenschaftliche Foto­grafin; 69 Jahre alt.
Die Rockstars meines Lebens
Beim Nachdenken über Vorbilder habe ich es mir nicht leicht gemacht. Da war niemand Besonderes, von dem ich spontan hätte sagen können, so wie XY möchte ich sein, wenigstens annähernd. Ich verneige mich aber vor Männern und Frauen, die Sterbende auf ihrem letzten Weg – zu Hause oder im Hospiz – liebevoll begleiten. Ich habe allergrößten Respekt vor Menschen, die selbstlos helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, denen es ein Bedürfnis ist, andere ein wenig glücklicher zu machen, und ich ziehe den Hut vor denen, die konsequent gegen Rassismus kämpfen, auch wenn sie Repressalien ausgesetzt sind. Jetzt, wo ich älter bin, verlässt mich häufig der Mut, und ich ziehe die Sicherheit vor. ...
Peter Bothe
geboren 1950 in Recklinghausen; Sozialpädagoge und Kulturmanager, Museumsleiter i. R., Kurator von Kunstausstellungen. Veröffentlichungen im SHZ-Verlag, Flensburg; „Graswurzelrevolution“, Grafische Werkstätten Kassel; „Euterpe – Jahrbuch für Literatur III“, Husumer Druck- und Verlagsgesellschaft; für 2019 geplant: „Neue Wahrheiten – Geschichtliches, Sagen und Mythen neu interpretiert“; „Ulrich-Grassnick-Lyrik-Anthologie“.
Ein Torwart und ein 2:3 oder: Where are the champions?
Es ist der 18. September 1965. Am späten Vormittag, es war ein nieseliger Samstag, und ich war gerade aus der Schule gekommen, da stürmte mein Onkel Hans-Bernd, der nur „Seppl“ genannt wurde – warum, weiß kein Mensch! – in unsere Wohnung: „Ey, Berni, du glaubset nich – ich hab vonnem Kollegen noch Karten für Schalke gekricht!“ Berni war mein Vater, und beide waren eingefleischte Schalke-­Fans. „Pitter, kannz mitkomm, wenne willz!“, wurde ich mit­­einbezogen. Klar wollte ich mitkommen; aber nicht wegen Schalke, sondern weil das Derby gegen Borussia Dortmund anstand. Außerdem war seit der Weltmeisterschaft in Chile 1962 mein Fußballgott Hans Tilkowski, Keeper beim BVB.
Bei der Weltmeisterschaft 62 hatte er noch für Westfalia Herne gespielt; und hätte er, nicht Wolfgang Fahrian, damals im Tor gestanden, wir hätten das Spiel gegen Jugoslawien nicht verloren! ...
Werner Bergmann
Jahrgang 1946, Studium der Geschichte und Mathematik; Promotion und Habilitation in Mittelalterlicher Geschichte und Historischen Hilfswissenschaften; akademische Lehrtätigkeit an der Ruhr-Universität Bochum, TU Braunschweig, an den Universitäten Rostock, Hamburg und Potsdam; apl. Professur, zahlreiche Publikationen und Quelleneditionen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte.
Ik sall denken!
Er war mein Klassenlehrer auf der Knaben-Realschule in den ersten vier Jahren; war einer von denen, die nach der Reifeprüfung in den Krieg mussten und nach einem Ruckzuck-Studium in die Schule geschickt worden waren. Er war allerdings keiner von den Geschädigten, die der Krieg oder die Schüler oder beide zu skurrilen, gestörten Typen verbogen hatte.
Stets in Anzug, mit einem weißen Hemd und Krawatte, unterrichtete er Deutsch und Erdkunde und hielt die angeblich so disziplinlose Klasse ohne erkennbare Mühe im Zaum. Hart, aber herzlich. Während seine Kollegen he­rumschrien, Schlüsselbunde, nasse Schwämme und Ähnliches als Wurfgeschosse einsetzten, zum Nachsitzen oder zu Strafarbeiten verdonnerten oder wie einer im Winter die Fenster aufriss und posaunte: „Ich werd euch Luft machen“, genügte ihm meist ein ernstes Wort. So man etwas verbockt hatte, wurde man zitiert und zusammengefaltet mit kurzer Ansage, die bei gröberem Unsinn auch schon mal mit einem leichten Klaps auf den Hinterkopf eindringlicher gemacht wurde. Danach war die Angelegenheit vergessen, und man ging zur Tagesordnung über.
Werner Boschmann
ist im Ruhrgebiet geboren, aufgewachsen und lebt dort heute noch.
Der Joseph, der Phil, die Frau Ebel und der Herr Schily, der Erich, der Wilfried und der Sahin
„Werner, mach ma den Joseph!“ Diese Aufforderung muss ich spätestens am 21. Februar 1957 zum ersten Mal gehört haben, denn an diesem Tag feierte Oppa Theo seinen 70. Geburtstag, die Bude meiner Großeltern war proppenvoll, alle Erwachsenen waren angeschickert. Ich weiß noch ganz genau, wie Onkel Rudi mich auf den Wohnzimmertisch hievte und die Korona tönte: „Werner, mach ma! Werner, mach ma den Joseph!“ – Und ich machte:
„Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Nun, Volk steh auf und Sturm brich los!“ – Die Geburtstagsgesellschaft tat beides. ...
Hermann Beckfeld
wurde 1955 in Bottrop geboren, begann als Zeitungszusteller und ist seit 19 Jahren Chefredakteur. „Beckfelds Briefe“ erscheinen seit April 2012 an jedem Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten, der Dorstener Zeitung, der Halterner Zeitung, der Münsterland Zeitung; „Beckfelds Briefe – Ganz persönlich“ gibt es in drei Bänden als Buch und als Hörbuch. Der Autor gewann acht Journalisten-Preise, darunter den renommierten Theodor-Wolff-Preis.
Lebenskünstler. Grenzgänger. Kumpel. Über Willi, der das Glück verschenkte
Willi ist tot. Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Einfach so, ohne Vorwarnung. Typisch Willi. Wie er lebte, so starb er. Er wollte nicht, dass wir mitleiden, er wollte kein Mitleid. „Willi, wie geht es?“ – „Es ist eine Lust, zu leben“, sagte er und ließ die Krücken über seinem Kopf tanzen. Ansonsten brauchte er sie, um seinen geschundenen Körper zu bewegen.
Eines seiner Reiter-Mädchen, mindestens so alt wie ich, und ich bin 63, rief mich an. Sie weinte, konnte nicht sprechen, aber ich wusste Bescheid. Eine Todesnachricht ohne Worte. Am Kneipentisch saßen meine Doppelkopfbrüder, die Karten waren schon ausgeteilt. Willi hätte gewollt, dass das Spiel weitergeht, dass ich an diesem Abend Pils und Schnaps auf sein Wohl trinke. ...