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Werner Bergmann trifft Werner Boschmann
Die
beiden kennen sich seit einem halben Jahrhundert – seit ihrer
gemeinsamen Zeit an der Ruhr-Universität Bochum. Vor zwei Jahrzehnten
haben sie sich wiedergetroffen; seitdem schreibt WeBe Bücher, die WeBo
verlegt.
In Werner Bergmanns wunderschönem Garten hinter seinem Haus in
Oberhausen-Klosterhardt haben die beiden WBs über alte und neue Zeiten
geplaudert.
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WeBo: War Deine Jugend erwähnenswert?
WeBe:
Jein. Es war
eine Kindheit und Jugend, die ich mit vielen Nachkriegskindern teilte.
Als Manifestation der Wiedersehensfreude nach dem Kriege war ich, wie
meine Tante lapidar in einem Brief feststellte „ein ganz normales
Kind“, das in den Trümmern des Bombenkrieges spielte, zur Volksschule
[1954–1957] und dann zur Realschule [1957–1963] ging, weil es für
das erforderliche Schulgeld fürs Gymnasium nicht reichte.
Schon bald war es mein Wunsch, zu studieren und Lehrer für Geschichte
und Mathematik zu werden. Dazu brauchte man in der Zeit ein Abitur mit
großem Latinum, und ein Übergang von der Realschule zum Gymnasium war
noch nicht möglich. Also erarbeitete ich mir weitgehend autodidaktisch
anhand von alten Lehrbüchern und einer zerfledderten Grammatik
Kenntnisse der lateinischen Sprache. Mit meinem Realschulzeugnis bin
ich dann beim Direktor des Steinbart-Gymnsiums vorstellig geworden mit
meiner Bitte, in die Obersekunda aufgenommen zu werden. Entgegen den
üblichen Gepflogenheiten hat er meinem Wunsch entsprochen, so dass ich
nach drei weiteren Schuljahren 1966 die Reifeprüfung erfolgreich
absolvierte, wenn auch nur mit einem mäßigen Ergebnis.
WeBo: Du konntest also dann Deinen Traum vom Studium erfüllen?
WeBe: Ja, aber
davor hatte der Vater Staat die Ableistung der Wehrpflicht gestellt.
Dieser Pflicht habe ich 18 Monate lang genügt, indem ich beim
Bundesgrenzschutz [1. GSG 5] eine Grenze bewachte, die es heute nicht
mehr gibt, so dass ich mit dem Studium auf der Baustelle der
Ruhr-Universität erst im Wintersemester 1967/68 beginnen konnte.
WeBo: Eine spannende Zeit, in der Du dein Studium begonnen hast?
WeBe: In der Tat.
Die Uni war ein höchst politisch engagiertes Pflaster. Demos, Sit-ins
und Streiks waren an der Tagesordnung, Ich war, obwohl studentische
Hilfskraft an einem höchst konservativen Lehrstuhl, Mitbegründer der
RUB-Jusos, damit aber für die linken Gruppen noch zu etabliert. „Die
reaktionären Erzgauner wagen sich aus ihren Löchern“ haben sie
plakatiert.
WeBo: Wie ist es gekommen, dass Du dich auf die mittelalterliche Geschichte spezialisiert hast?
WeBe:Ursprünglich
war ich von der alten Geschichte begeistert, vornehmlich von den
Römern. Doch sehr bald merkte ich, dass man dort – ähnlich dem Bauern,
der den Acker um- und umpflügt – die seit langem bekannten Quellen
immer aufs Neue beackert, um vielleicht eine neue Krume zu finden.
Mittelalterliche Quellen, Urkunden, Siegel, Briefe usw., die niemand
seit Jahrhunderten angesehen hat, gab es hingegen praktisch an
jeder zweiten Ecke zuhauf, selbst hier im Industrierevier. Da konnte
man Neues entdecken, geschichtliches Geschehen wieder zutage fördern.
Also lernte ich, die alten Schriften zu lesen, belegte Seminare zur
Urkundenlehre sowie zu Chronologie und Komputistik und kam so zur einer
historischen Spezialdisziplin, den historischen Hilfswissenschaften.
Der Lehrstuhlinhaber war nach studentischer Flüsterpropaganda wenig
beliebt, aber was er lehrte, interessierte mich, und seinen
akademischer Habitus ignorierte ich im Wesentlichen. So war es mehr
Zufall, dass ich an dessen Lehrstuhl als studentische Hilfskraft
landete, womit ich zunächst einmal der Sorge der Finanzierung des
weiteren Studiums entledigt war und nicht mehr als Lagerarbeiter
bzw. Industriedachreiniger jobben musste.
Die Teilhabe an wissenschaftlicher Forschung und Arbeit, die ich mir so
vorstellte, war realiter ernüchternd. Das Projekt, an dem man
arbeitete, war der „Orbis Latinus“, ein Lexikon lateinischer Ortsnamen,
die auf Zetteln, die rund 150 Schuhkartons füllten, notiert
waren. Die warteten darauf, alphabetisch sortiert zu werden, eine
nervtötende, überdies langweilige Arbeit, die semesterlang gedauert hat
und den Spaß an der Wissenschaft verderben konnte.
WeBo: Und doch bist du beim Mittelalter geblieben?
WeBe: Ja, da gab es
auch spannendere Sachen, z.B. die Urkunden der Merowinger. Zu diesen
waren schon zwei Dissertationen gelaufen. Die schriftlichen Überreste
waren aufgrund der Sauklauen der Schreiber schwer zu lesen, und es gab,
was deren Bedeutung anging, nur Weniges. Außerdem, wie Du ja auch
weißt, war die Geschichte der langgelockten Könige wild und spannend.
WeBo: Ja. Die Merowinger hatten in der Mediävistik in Bochum Konjunktur!
WeBe: Es war ja
auch eine spannende Sache, so dass sie für das Thema meiner
Magisterarbeit herhalten mussten. Die vorhandenen Abbildungen und
Editionen waren schlecht, so dass ich mir in Paris die Originale
ansehen musste. Das Ergebnis der Bemühungen war nicht schlecht, so dass
auch die Note im Magisterexamen 1973 ausgezeichnet war und mir
angeboten wurde, auf der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten
m. d. V. b. [mit der Verwaltung beauftragt] das Projekt zu einer Diss.
auszubauen. Die Arbeit daran nahm zwei Jahre in Anspruch, so dass ich
1975 promoviert wurde und fortan eine Assistentenstelle bei den
Historischen Hilfswissenschaften innehatte.
WeBo: Damit war der Grundstein für eine universtäre Karriere gelegt?
WeBe: Im Prinzip
ja. Allerdings nur mit nicht unerheblichen Hindernissen. Die drei
Lehrstuhlinhaber für die mittelalterliche Geschichte waren
übereingekommen, dass jeder zwei Kandidaten zur Habilitation führen
wollte, und das in zuvor definierter Reihenfolge MA I. MA II und Hiwi.
Somit war ich der Letzte in der Reihe und hatte überdies das Pech, dass
derjenige, der vor mir an der Reihe war, sowohl für die Arbeit als auch
für den Probevortrag jeweils zwei Anläufe benötigte. Dadurch dauerte es
bis zu meiner Habilitation dann ganze acht Jahre, obwohl die dazu
notwendige wissenschaftliche Arbeit nach gut vier Jahren fertiggestellt
war.
WeBo: Womit hast Du Dich in dieser Arbeit beschäftigt? Bist Du den Merowingern treu geblieben?
WeBe: Nein. Ich
habe mir etwas Neues gesucht: Das Quadrivium, d.h. die
Naturwissenschaften im Mittelalter. Und hier besonders die Astronomie,
die Geometrie und Mathematik. Mit der Musik, die man ebenfalls
dazuzählte konnte ich allerdings nicht so recht etwas anfangen.
Besonders interessierte ich mich für das Astrolab, ein astronomisches
Instrument, das von den Arabern über Spanien ins lateinische Abendland
gekommen war. Ein späterer Papst [Silvester II.] und ein gelähmter
Mönch aus dem Kloster Reichenau haben es beschrieben und dessen
Konstruktion erklärt.
WeBo: Hört sich kompliziert an.
WeBe: War es auch,
doch für die speziellen astronomischen Fragen hatte ich in dem Kollegen
Schlosser [ein Archäo-Astronom, der später die Scheibe von Nebra untersucht
hat] einen interdisziplinären Ansprechpartner. Wir hatten zuvor schon
einmal gemeinsam Herrn Kaminskis Stonehenge – die Kirche zu Wormbach im
Sauerland – ins Reich des Schwachsinns befördert. Mit einer gemeinsamen
Arbeit haben wir es zu einer gewissen Berühmtheit und in die Gazetten
geschafft, so z. B. in Nature und Time Magazine – draußen drauf
Gorbaschow und Reagan, innen Bergmann und Schlosser –, ja selbst die
BILDzeitung hat einen winzigen Artikel gebracht, da uns der historische
Nachweis gelungen war, dass der Sirius [α CaMa]
im Frühmittelalter rot war, also die Entwicklung vom roten Riesen zum
weißen Zwerg in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum stattgefunden
haben musste. Der berühmteste Nachfolger des heiligen Martin auf dem
Bischofstuhl von Tours hatte eine Zeittafel für die nächtlichen
klösterlichen Gebete anhand von Sternkonstellationen verfasst, in der
der rote Sirius eine bedeutsame Rolle spielte. Die Astrophysiker
mussten also ihre Modellrechnungen von mehr als 100.000 Jahren
grundlegend korrigieren.
WeBo: Und die Habilitation?
WeBe: 1983 wurde
ich endlich habilitiert. In meinem Probevortrag habe ich mich mit
Fälschungen im Mittelalter auseinandergesetzt, und mit der
Antrittsvorlesung bin ich zu unseren langgelockten Königen
zurückgekehrt und habe über Schrift und Schriftlichkeit im Reiche der
Merowinger vorgetragen.
Webo: Dann hattest es Du also geschafft?
WeBe: Keineswegs. Es änderte sich wenig, außer dass ich mich jetzt mit meiner Venia Legendi – meiner „Lehrerlaubnis“
– „Mittelalterliche Geschichte und deren Hilfswissenschaften“
Privatdozent nennen durfte und Vorlesungen halten konnte. In dieser
Zeit habe ich für die FernUni in Hagen ein dreibändiges Seminar über
die mittelalterliche Zeitrechnung und die Komputistik – im Wesentlichen
die Berechnung des Ostertermins, die ein Problem im Mittelalter
dargestellt hat – erstellt. Parallel dazu habe ich ein Computerprogramm
„Chronos“ geschrieben, welches nicht nur beliebige Ostertermine zu
berechnen in der Lage war, sondern auch alle mittelalterlichen
Berechnungsparameter zur Verfügung stellte; damals war aufregend Neues,
heute drei Jahrzehnte später annähernd banal.
WeBo: Aber zum Prof. hast du es doch gebracht!
WeBe: Ja, 1986 war
es dann so weit. Ich erhielt eine Professur für Historische
Hilfswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung quantifizierender
Methoden. Damit verbunden war auch gleichsam das Erbe meines Doktor-
und Habilitationvaters: zwei Doktoranden und ein drei Jahrzehnte altes
Manuskript zur Tegernseer Briefsammlung, welches ich überarbeiten und
zur Druckreife bringen sollte. Zunächst beiseitegelegt, hat es mich
schließlich ganze sieben Jahre gekostet, bis es schließlich erscheinen
konnte. Während der Umbrüche der Wiedervereinigung habe ich diverse
Semester an verschiedenen Universitäten gelehrt, so in Rostock,
Potsdam, Baunschweig und Hamburg. Im Laufe der Zeit habe ich 15
Doktoranden*innen erfolgreich betreut.
WeBo: Welche Dinge haben dich in der mittelalterlichen Geschichte besonders interessiert?
WeBe: Mein
besonderes Interesse galt zunächst dem Urkundenwesen im frühen
Mittelalter, also dem Spezialgebiet der Diplomatik, mit allem, was
dazugehört. Dazu habe ich zwei Urkundenbücher und eine Reihe von
Untersuchungen publiziert, die in Fachzeitschriften erschienen sind.
Ein zweiter Schwerpunkt war und ist das mittelalterliche Quadrivium. In
diesem Zusammenhang war die Zeitrechnung mein Lieblingsthema,
insbesondere die Osterfestrechnung. Da habe ich das Werk eines irischen
Mönchs, der am Hofe Karls des Großen gelebt hat, ausgegraben, das eine
für damalige Zeiten innovative Osterfestberechnung enthält, und
nachgewiesen, dass diese zu Unrecht im Orkus der Geschichte
verschwunden war, weil sie zu spät fertiggestellt worden war. Auch
damals galt schon das geflügelte Wort Gorbatschows: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Selbstverständlich bin ich auch der Geschichte der Mathematik treu
geblieben. Da es bis dato nur Rudimentäres zum Rechnen mit römischen
Bruchzahlen gab, habe ich dazu eine Anleitung geschrieben, die Du
freundlicherweise verlegt hast, obwohl es dafür nur einen beschränkten
Interessentenkreis gibt.
Als Mediävist der ersten Universität im Ruhrgebiet erwächst einem
selbstverständlich die Aufgabe, den Menschen im Revier zu zeigen, dass
es bereits vor Kohle und Stahl hier Geschichte gab und Bedeutsames und
weniger Bedeutendes passiert ist. So habe ich mich mit der Geschichte
der Region in verschiedenen Bereichen befasst und publiziert, eine
Historische Gesellschaft begründet sowie eine Reihe von Arbeiten
angeregt und betreut.
WeBo: Und jetzt als Rentner genießt du den Ruhestand?
WeBo: Im
landläufigen Sinne vielleicht nicht. Da ich das Glück hatte, mein Hobby
zum Beruf zu haben, kann ich mich jetzt weiterhin meinem Hobby widmen
ohne Zeitdruck und Verpflichtungen. Als Mittsiebziger beschränkt man
sich allerdings nur noch auf überschaubare Projekte vornehmlich aus der
Regionalgeschichte, im Augenblick auf die Geschichte von Burg Vondern,
dem ältesten Gebäude in Oberhausen, das die wenigsten kennen. Hier gilt
es, die historische Dimension eines Wehrbaus, den nun mal eine Burg
darstellt, einer mit wenig Fachwissen geschlagenen Denkmalbehörde zu
vermitteln.
WeBo: Also kannst Du es nicht lassen?
WeBe: Natürlich
nicht. Ich habe mittlerweile ungefähr hundert Titel auf meiner
Literaturliste, aber das ist ja das Faszinierende am Mittelalter: Es
gibt an jeder zweiten Ecke etwas aus dieser Zeit, was viele
Jahrhunderte niemand angesehen hat oder das der Erklärung bedarf, wie
der „Galgenpastor“ der Pilgerkapelle in Wattenscheid. Da ist man eben
neugierig und bleibt es.
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