Dieses
Buch ist eine ganz tiefe Verneigung vor der Generation 45, die vielen
von uns ein tolles Leben ermöglicht hat: durch ihre Pfiffigkeit, ihren
Fleiß, ihren Mut sowie durch die Gabe, aus schrecklichen Ereignissen
die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und diese umzusetzen. Ohne
Selbstmitleid und Jammern.
Gertrud und Gustav Puzicha (Bochum) im Gespräch
mit Lothar Gräfingholt
Hubert Steinhaus (Bottrop) im Gespräch mit Heike Biskup
Paul Reding (Castrop-Rauxel) im Gespräch mit Reinhilde Hedtrich
Klaus Gruhn (Dortmund) im Gespräch mit Hubertus Janssen
Brigitte König (Essen) im Gespräch mit Sebastian Schmitz
Eva Neumann (Gelsenkirchen) im Gespräch mit Sabine Piechaczek
Ernst-Dieter Walter Penndorf (Lohberg)im Gespräch
mit Benjamin Bäder
Ruth K. (Recklinghausen) im Gespräch mit Lars von der Gönna
Adolf Reddemann (Recklinghausen) im Gespräch mit Elke Jansen
Renate Ritz (Westfalen) im Gespräch mit Dr. Thorsten Voß
Hans Peter Kunz-Hallstein (Hagen), Kriegserinnerungen
Hans Nöring (Dortmund), Tief eingebrannt
Aus der handschriftlichen Chronik
der Gemeinde St. Bonifatius in Dortmund
Fotos aus der Privaten Sammlung
Ferdinand Lammert
Biografie-Projekt der Anne-Frank-Gesamtschule,
Dortmund-Nord, mit dem Seniorenwohnpark Burgholz
Aus dem Tagebuch der englischen Besatzung in Bottrop
Klaus Gruhn
Erinnerungen an das Bombardement
auf Dortmund am 12. März 1945
Zwei Abenteuerfahrten durch das
zerstörte Ruhrgebiet
Informationssuche zwischen gelenkter
Presse, BBC London und Flugblättern

Das Foto hat Eva Neumann für das Buch zur Verfügung gestellt.
Sie hat mit Sabine Piechazek über ihr Erleben des Kriegsendes
gesprochen. Das Foto wurde in der direkten Nachkriegszeit aufgenommen.
Kinderschützenfest in Gelsenkirchen, und Eva ist leicht zu erkennen:
Sie ist das einzige Mädchen mit Trägerrock.
Sabine: Mit dem A und O, mit Essen und Trinken, hat es insgesamt geklappt?
Eva (Jahrgang 1932): Bis auf eine kurze Zeit, da gab’s so gut wie
nichts in den Geschäften, da gab’s nur Maisbrot; wenn das frisch war,
ging es noch, aber sonst war es fürchterlich. Das bestätigen mir auch
heute noch Alte, wenn ich mit denen spreche.
Elke: Und als Sie dann wieder in Recklinghausen waren? Die Stadt sah ja ganz anders aus, als Sie es noch gekannt hatten.
Adolf (Jahrgang 1932): Das Nordviertel war vollkommen platt, war
zerstört. Nur Ruinen. Unser Haus hier an der Straße hatte einen
Bombenschaden. Ein Blindgänger ist durch die Badewanne gegangen. Der
liegt ja wohl heute noch irgendwo tiefer. Der ist nie entschärft worden.
Heike: Aber sie waren froh, als der Krieg dann vorbei war. Und auch das Ganze mit dem Nazitum und so?
Hubert (Jahrgang 1931): Na ja, wir waren katholisch, und wir waren
etwas informiert über die Hirtenbriefe. In der Nachbarschaft war ein
Mädchen, das war etwas geistig behindert. Und die Eltern, die wurden
angeschrieben. Die Schwestern haben gesagt: Wir können für die
Gesundheit ihres Kindes nicht mehr garantieren. Daraufhin wurde sie von
dem Heim wieder zurückgeholt. Während andere, die stärker behindert
waren, plötzlich verschwunden waren.
Lars: Wann kam der andere Blick auf die Nazizeit?
Ruth (Jahrgang 1931): Zurück in Recklinghausen verbrachte ich mit
meiner Mutter viel Zeit bei meinem Großvater. Es gab wieder „echte“
Nachrichten, vor allem über Konzentrationslager. Da lief es mir eiskalt
den Rücken runter. Dass das überhaupt menschenmöglich ist, habe ich
nach 1945 als tiefen Schrecken erlebt. Einmal wurde die Zahl der Toten
von Hitlers Krieg durchgegeben. Mein Großvater saß da am Radio und
weinte.
Hans Peter (Jahrgang 1939): Den Tag des Kriegsendes habe ich nicht in
besonderer Erinnerung. Ich weiß aber noch, dass ich trauerte, nicht
mehr Hitlerjunge werden zu können. Die Uniform und die kurzen Messer
hatten es mir angetan.
Lothar: Was war mit deiner Arbeit in der Verwaltung während der Besatzungszeit?
Gustav (Jahrgang 1930): Wir Lehrlinge wurden eingesetzt, um wichtige
Nachrichten zu übermitteln. So habe ich auch mit dem Fahrrad bestimmte
Leute angefahren. Wenn zum Beispiel der Stadtkommandant Leute, die
leitend in der Verwaltung tätig waren, um sich scharen wollte: Wie
konnten die die Mitteilung kriegen, die da erscheinen sollten? So was
habe ich auch gemacht.
Sebastian: Wie war das bei deiner Ankunft in Essen?
Brigitte (Jahrgang 1934): Keiner hat mich abgeholt. Und zu der
Zeit gab es keine Rollenkoffer. Den schweren Koffer musste ich
schleppen. Und weißt du, wie lang die Dellwiger Straße ist? Weißt du
das?
Sebastian: Die geht aber nicht bergauf, oder?
Brigitte: Ich war ziemlich platt. Auf der einen Seite stehen
Zechenhäuser, alle schwarz, und auf der anderen Seite fährt der Zug.
Reinhilde: Und was gab es sonst noch? Was kannst du sonst noch über diese Zeit berichten?
Paul (Jahrgang 1939): Ich habe noch jetzt im Ohr, wie eine Bekannte
meiner Mutter in der Adolf-Hitler-Straße, heute heißt sie Lange Straße,
heimlich ihr zuraunte: „Jetzt haben sie auch die uralte Frau Nathan
abgeholt.“ Mehr hatte meine Mutter dazu nicht sagen können als:
„Schade.“
Benjamin: Und wie bist du nach Oberlohberg gekommen?
Dieter (Jahrgang 1940): Im Winter auf dem LKW hinten auf dem Hänger, in
Wolldecken eingehüllt, zwischen den Möbeln. 250 Kilometer bis nach
Dinslaken. Ich wollte aus Karlshafen nicht weg. Da hat mein Stiefvater
gesagt: „Ach, es ist doch schön dort. Wir haben ganz viel Wald da, den
Oberlohberger Busch.“ Na ja, ich bin da angekommen, bin runter vom LKW,
bin mal 50 Meter gelaufen, hab den Oberlohberger Busch gesehen, bin die
50 Meter retour, bin wieder in den LKW und wollte zurück nach
Karlshafen. Das war ein Kulturschock. Ja, das war für mich ein
Kulturschock.
Thorsten: Wie hast du die Umsiedlung erlebt?
Renate (Jahrgang 1935): Die Sudetendeutschen wurden gezwungen, ihre
Heimat zu verlassen. 50 Kilogramm pro Person durfte man mitnehmen. Wir
wurden im August 1946 aus dem Lager entlassen und konnten nirgendwohin.
In dem Haus, in dem wir früher gewohnt haben, war jetzt ein Tscheche.
Hubertus: Und habt ihr damals auch Englisch gesprochen?
Klaus: (Jahrgang 1933) Nein, wir haben uns mit Zeichen verständlich
gemacht. Das Wort „chewing gum“, das haben wir natürlich gelernt,
„Cigarettes“ auch. Warum? Weil das das beliebteste Tauschmittel war. Es
wurden ja vorher schon in der Kriegswirtschaft die Rationen immer
weiter reduziert. Und mit dem Zusammenbruch, der als völliger
Zusammenbruch der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens begann,
setzte ja eine große Notzeit ein. Die Währung war überhaupt nichts mehr
wert, und es gab schnell eine Tauschwirtschaft.
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